Auf der Suche nach Großzicken

Der Zickenbach – wer kennt ihn nicht? Ok, vielleicht gibt’s ja Menschen, die die Wolga des Südburgenlandes, den Ganges des Bezirks Oberwart, den Amazonas der Wart tatsächlich nicht kennen. Aber um den Zickenbach – verkürzt wird er gern auch nur „die Zicken“ genannt – geht’s hier ja eh nur am Rande. Dieser idyllische Strom von beeindruckenden 30km Länge, der auf seiner Reise von der Zusammenführung aus Seraubach und Willersbach bis hin zur Mündung in die Pinka ganzen fünf Gemeinden die Ehre erweist, sie zu durchfließen, dieser reißende Strom also, er ist Quell eines großen Mysteriums. Seine Wassermassen haben in seinem Einzugsgebiet die Menschen geprägt, wie kaum ein anderer. Er hat die ihn Umwohnenden inspiriert und ihnen fruchtbare Böden geschenkt. Als Dank haben sich Handelsleute und Bauern, Pfarrer und Dorflehrer, die Dorfältesten und die, die beim Wirten immer überbleiben, zusammengefunden und dem Zickenbach die größte Aufwartung gemacht, die man einer derartigen Naturgewalt nur machen kann:

Sie haben ihr Dorf, ihre Heimat, den Ort, an dem sie leben, lieben und leiden nach ihm benannt. Das schaffen nicht viele Flüsse. Man denke nur an die Donau, die es grad auf einen Bezirk in Wien gebracht hat: Donaustadt. Ein Name, der mehr recht und schlecht zusammengeschraubt wirkt. Dahingegen steht es um den Zickenbach ganz anders. Gleich vier Ortschaften rühmen sich hier damit, den ehrwürdigen Namen der stetig fließenden Lebensader auf dem Ortsschild stehen zu haben.

Es sind dies Eisenzicken (ungarisch auch Németcziklény, Németcziklin, Vasverőszék oder Vasszék genannt; die kroatische Bezeichnung lautet Nimški Cikljin). Hier siedelten einst Schmiede, die eine reizvolle Kombination aus dem von ihnen bevorzugten Material und dem Namen des ehrwürdigen Stromes hämmerten.

Weiters am Atlas: Spitzzicken. Manchen auch als „Spitz Vegas“ bekannt, weil man – Gerüchten zufolge ­– dort wohl mit einem nicht genannt werden wollenden Stromanbieter einen besonders gefinkelten Deal für die Gesamtbevölkerung erhandeln konnte, der es ermöglicht, den Ort in der Vor- und Weihnachtszeit besonders bunt und hell erstrahlen zu lassen. Angeblich kursieren im Internet hochauflösende Bilder von der ISS, auf der man Spitzzicken eindeutig auf dem weit entfernten Erdenrund ausmachen kann. Ob eine besonders ausgeprägte Mäanderung bei Spitzzicken oder das aphrodisierend wirkende Plätschern des Flusses Pate für den Präfix „Spitz“ war, ist der Dorfchronik leider nicht zu entnehmen.

Natürlich darf sich auch Kotezicken stolz wähnen, den Zickenbach im Ortsnamen verewigt zu wissen. Und das, obwohl er – das muss man ihm schon zu seiner Ehrenrettung lassen – sich knapp vor dem Eintreffen im Dorf in die Pinka rettet. Der Ort ist, so die Historie, aus einem Gehau bzw. Verhau – mundartlich „Kho“ – am Zickenbach, zu einem der vielen typisch burgenländischen Straßendörfer erwachsen, deren Häuserzeilen sich wie zwei Perlenketten an die geschwungene Durchzugsstraße schmiegen.

Schließlich wäre noch Kleinzicken zu erwähnen. Aufmerksame Wetterberichtenthusiasten wird der Ortsname schon dann und wann einmal durch den Gehörgang gepurzelt sein. Nämlich dann, wenn wieder die Tageshöchsttemperaturen oder beeindruckende Niederschlagsmengen im Radio durchgegeben werden. Die Wetterstation in Sichtweite des Zickenbachs ist der ganze Stolz des kleinen Dorfes, welches sich sacht an Kleinpetersdorf lehnt. Auch dieser Ort ist ein ­­– etwas größeres – kleines Straßendorf,  das wiederum unweit von Großpetersdorf liegt. Böse Zungen behaupten gar, dass die schmähende Formulierung „Mehr Buchstaben als Einwohner“ hier ihren Ursprung hat.

So ist das halt im Burgenland: Groß und Klein liegen halt immer nah beieinander. Man muss nur von Kleinzicken aus übers Zweistromland zwischen Zickenbach und Pinka rüber schauen und findet dort ebenfalls Groß und Klein direkt nebeneinander: Kleinbachselten und Großbachselten. Hier wiederum liegt der Reiz darin, dass Kleinbachselten einwohnermäßig größer als Großbachselten ist.
Es ist eben ein geheimes Markenzeichen des Burgenlandes, dass man sich in Sachen Ortsnamensgebung gerne der Voranstellungen „Groß“ bzw. „Klein“ bedient. Es gibt kein Warersdorf, sondern nur Groß- und ein Kleinwarersdorf. Groß- und Kleinmürbisch, Groß- und Kleinmutschen aber auch Groß- und Kleinhöflein kommen nicht ohneeinander aus und liegen nur wenige Gehminuten voneinander entfernt. Wo ein Groß, da auch ein Klein. So muss das sein. Das Yin und Yang der burgenländischen Ortsbenamsung quasi.

Aber wer Asterix kennt, der weiß, dass es immer wieder Widerstandsnester gibt. Und natürlich auch in dieser Sache. Es gibt diesbezüglich nämlich ein kleines, unbeugsames Dorf, das sich dieser Ausgewogenheit entgegensetzt, ja sogar widerwillig aufbäumt und stur sich allem Großen widersetzt: Kleinzicken.

Aus irgendeinem Grund, den Sprachforscher sämtlicher im Burgenland gesprochenen Sprachen Deutsch, Ungarisch, Kroatisch und Romanes ebenso wenig wie Kartographen aller bisherigen Epochen nicht ergründen konnten, gibt es kein Großzicken. Kleinzicken als Ortsname hebelt sich in dieser Sache irgendwie selbst aus. Der Namenszusatz „Klein“ für ein Dorf, das just an der Stelle verortet ist, an dem der Bach, nachdem ebenjener Ort benannt ist, zu seiner vollsten Pracht und vollendeten Stärke anschwillt, also alles andere als klein ist, verschließt sich jeder Logik.

Also warum „Klein“-zicken? Ist es der Bescheidenheit der genügsam lebenden Bevölkerung geschuldet? Ist es als Hommage an die besonders freundlichen Verwandten und Bekannten aus den umliegenden Ortschaften Kleinpetersdorf oder Kleinbachselten zu interpretieren? Wollte man diesen Nachbarn huldigen, indem man sich selbst auch ein „Klein“ voranstellte, sich mit ihnen solidarisieren und es den „Groß“-Dörfern zeigen, dass es mehr Klein als Groß gibt? Vielleicht ist aber auch den Altvorderen der kleinen Siedlung seinerzeit nichts Passenderes eingefallen und man hat einfach bei den Kleinpetersdorfern abgeschrieben? Wer weiß das schon. Aber es scheint naheliegend.

Denn die beiden Ortsenden waren seinerzeit grad so weit entfernt, wie die Dorfältesten zu pinkeln imstande waren und da muss man bedenken, dass diese Herren ihre Lebenskraft auf den umliegenden Feldern in harter Arbeit verbraucht haben und darob diesbezüglich zu keinen außerordentlichen Leistungen fähig waren. Mittlerweile sind die beiden Orte zusammengewachsen, nur ein metallenes Ortsschild verkündet den Durchreisenden, auf welchem Hoheitsgebiet man sich grade befindet. Und da sind die Einheimischen sehr genau! Verwechslungen werden nicht gern gesehen. Neue Postler, besonders Ferialpraktikanten wissen ein leidvolles Lied davon zu singen, wenn in quasi einem Dorf, ein und dieselbe Hausnummer gleich zweimal vorkommt. Nicht selten ist dem Briefzusteller mitten im Ort der Sprudel vom Moped ausgegangen, weil beim Vorsortieren die Nummern zwar aufsteigend, aber die Ortschaften gemischt, eingeordnet wurden und dadurch ein erhöhter Fahraufwand entstand.  Erschwerend kommt hinzu, dass die Hausnummern da wie dort nach wie vor chronologisch vergeben werden. So ist die Nummernreihenfolge 19, 55, 20 durchaus nicht ungewöhnlich. Wohl mit ein Grund, warum die Griffe der hiesigen Postlermopeds allesamt mit Bissspuren verziert sind.

Kann es aber auch sein, dass es Großzicken einst tatsächlich gab? Dass die Großzickener dem Zickenbach fruchtbares Land abtrotzten, in steter Mühsal dem Boden wertvolles Getreide und Gemüse sonder Art entlockten. Dass so ein blühender Hotspot der Landwirtschaft entstand, der Wissbegierige von nah und fern anlockte? Dass dieses Wissen über die Vorgänge im Boden, den Pflanzen, der Atmosphäre und allem was darüber schwebt  der Menschheit einen wertvollen Dienst erwies? Dass das „Groß“ in Großzicken der agrarökonomischen Metropole nur noch ein leises, schüchternes Schmeicheln war, weit weg von Bescheidenheit?  Und dass schließlich – wie es bei den meisten Hochkulturen leider der Fall ist – ein plötzlicher Niedergang und Zusammenbruch all dies in kollektives Verderben und Vergessen gestürzt hat? Vielleich waren es Zerwürfnisse innerhalb der Bevölkerung. Überbordender Reichtum steigt manchen ja schon mal zu Kopfe, wie uns die Geschichte lehrt, was eine intellektuelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Implosion auslösten kann.

Oder waren es nie dagewesene Niederschläge, die den Zickenbach zu einem reißenden Ungetüm anschwellen ließen, der die blühende Siedlung mit sich und in die Vergessenheit gerissen hat? Stromschnellen, die ganze Vierkanthöfe, mächtige Silokaskaden und riesige Ackerflächen dem Erdboden gleichgemacht und alles Leben für immer ausgelöscht haben. Welch ein tragisches Ende. Aber müsste es dann nicht Aufzeichnungen über den Ort geben? Berichte von fahrenden Händlern der Wanderpredigern, die dort einst Rast und Umsatz machten?

Was muss also geschehen sein, dass Großzicken aus allen Landkarten getilgt wurde, sämtliche Aufzeichnungen vernichtet wurden? Sogar von nordkoreanischen Militärflughäfen oder Area 51 gibt es zensierte Google-Maps-Bilder. Da weiß man zumindest, wo die sind, wenn auch  die Satelliten nix genaues preisgeben dürfen.

Aber von Großzicken fehlt weiterhin jede Spur.

Ein Kommentar zu „Auf der Suche nach Großzicken

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